State Of Social Media
Titelbild: © Ogilvy; The more you connect, the less you connect., 2015
Welche Herausforderungen haben Marken im aktuellen Social Media-Umfeld?
Die meisten sind sich einig, dass der Name "Social Media" für Plattformen wie Instagram, TikTok, Facebook oder X nicht mehr passend ist. Das soziale Element findet sich dort schon länger nicht mehr. Zu Beginn von Facebook haben wir unseren Freund:innen noch Nachrichten auf die Timeline geschrieben – heute servieren uns die Algorithmen hauptsächlich Unterhaltung oder Markeninhalte.
Eine aktuelle Umfrage der British Standard Institution zeigt: Fast 70% der 16–21-Jährigen fühlen sich nach der Nutzung von Social Media schlechter als zuvor. 46% sagen sogar, sie wären lieber in einer Zeit vor dem Internet jung gewesen.
Der Rückzug ins Private
Das echte "Social" zieht sich zurück in privatere Räume wie Discord-Channels, WhatsApp-Gruppen oder geschlossene Communities und private Instagram-Zweitkonten. Zoe Scaman nennt dieses Phänomen das „Cosy Web" – selbstgeschaffene Safe Spaces, in denen Menschen authentischere Verbindungen pflegen können.
In ihrer Keynote beim MarketingFestival in Brno Ende April sprach Zoe Scaman über die "Einsamkeitspandemie" und die "Solitude Generation", die durch Social Media verstärkt wird:
„We've created a generation of ghosts. Young people who float through digital spaces, crafting perfect lives they'll never live, chasing connections that never quite materialise." – Zoe Scaman
Trotz dieser negativen Effekte verbringen wir im globalen Durchschnitt 2 Stunden und 21 Minuten täglich auf diesen Plattformen. Die Gen Z liegt sogar bei vier Stunden pro Tag – oft geprägt von "Doom Scrolling" und "Brain Rot".
Für Marken bleibt es aber natürlich wichtig, dort präsent zu sein, wo sie Menschen erreichen können.
Die fragmentierte Medienwelt
Die Aufgabe des Marketings hat sich in den letzten 20 Jahren grundlegend verändert. Früher reichte ein Mix aus TV-Spot, Print, Außenwerbung und etwas Radio.
Heute müssen Marketer:innen:
Plattform-Algorithmen verstehen
Das Nutzungsverhalten verschiedener Zielgruppen kennen
Wissen, wie Aufmerksamkeit im aktuellen Medien-Ökosystem funktioniert
Wir sind von wenigen Massenmedien zu unzähligen personalisierten Content-Streams übergegangen. Wenn Marken früher Spots vor großen Sportsendungen oder vor "Wetten Dass..?" schalteten, wurden diese quasi zum "Allgemeinwissen".
Diese Steuerung von Informationsverfügbarkeit funktioniert heute nicht mehr. Eugene Healey beschreibt treffend den anderen Extremwert: Die kulturelle Übersättigung, in der Marken kaum noch Mythen aufbauen, Rares oder das Besondere hervorheben können. Wenn man auf Instagram "Birkin Bag" eingibt, erscheint eine endlose Anzahl an Reels und Beiträgen – das Besondere wird alltäglich. Früher hat man wahrscheinlich – je nach Umfeld – drei davon pro Jahr in echt gesehen.
Ein weiterer wichtiger Unterschied: Traditionelle Medien konsumieren wir passiv, während wir bei Social Media aktiv scrollen, ständig auf der Suche nach dem nächsten Dopamin-Schub. Wir treffen im Sekundentakt Entscheidungen, anstatt wie beim Fernsehen oder Lesen unsere Aufmerksamkeit längere Zeit auf einen Inhalt zu richten. Da sprechen wir noch gar nicht über andere Themen wie zum Beispiel Mental Overload durch die konstante Reizüberflutung mit der unser Gehirn so gar nicht umgehen kann.
Der Kampf um Aufmerksamkeit
Karen Nelson-Field von Amplified Intelligence hat einen wichtigen Richtwert etabliert: Unter 2,5 Sekunden Aufmerksamkeit bleibt kaum Markeneffekte in unseren Köpfen. Diese Schwelle wird in den schnellen Social-Media-Umgebungen oft nicht erreicht.
Ein Lichtblick kommt von Lumen mit dem Konzept der „Aggregated Attention" (gebündelte Aufmerksamkeit).
Die Kernidee: Viele kurze Aufmerksamkeitsmomente können zusammen gute Markeneffekte erzielen, wenn sie richtig orchestriert werden.
Voraussetzungen dafür sind:
Konsistente, aber plattformspezifische Umsetzung
Durchdachte Planung der Kontaktfrequenz
Nahtlose Abstimmung über verschiedene Kanäle hinweg
Grace Kite und MagicNumbers drücken diesen Effekt in folgender Grafik aus:
Abbildung 1: The whole is more than the sum of the fragmentet parts, MagicNumbers, September 2024
In der Mediaplanung im Bezug auf genutzte Kanäle gilt 1+1 = 3.
Michael Corcoran und Eugene Healey betonen in ihrem Gespräch bei "Frankly Speaking" einen wichtigen Aspekt: Wir müssen zwischen "Value Creation" (Wertschöpfung) und "Value Appropriation" (Wertaneignung) im Social-Media-Kontext unterscheiden. Bei "Value Creation" geht es darum, wie viel Wert die Inhalte an sich schaffen. Bei "Value Appropriation" geht es um die Frage, wie viel davon tatsächlich der Marke zugeschrieben wird. Ein viraler Hit schafft zunächst vor allem Wert für die Plattform selbst – die Herausforderung ist, diesen Wert auf die eigene Marke zu übertragen.
Was ist die Lösung?
Was schon immer die Spreu vom Weizen getrennt hat, wird noch wichtiger – besonders angesichts der zunehmenden KI-generierten Inhalte: Eine fundierte Social-Media-Strategie. Das bedeutet, wirklich zu verstehen, wie die Zielgruppe die Kanäle nutzt und welche Herausforderungen für die Marke und ihre Kategorie bestehen.
Michael Corcoran, Co-Founder Frankly Speaking, bringt es auf den Punkt:
„The price you pay for doing what everyone else does is getting what everyone else gets".
Brand Management, Social Media und Performance Marketing müssen zusammenarbeiten – Silos sind kontraproduktiv. Getrennte Zielsetzungen, fehlendes Verständnis für die gemeinsame Strategie und unkoordinierte kreative Umsetzungen zerstören die Markenkonsistenz und damit auch den Effekt der „Aggregated Attention".
Kampagnenplattformen als eine Lösung
Für erfolgreiche Kampagnen, die heute kaum ohne Social-Media-Präsenz auskommen, lautet das Schlüsselkonzept: Kampagnenplattformen. Das sind übergreifende kreative Ideen, die optimal auf die einzelnen Kanäle angepasst werden können.
Eine gute Kampagnenplattform:
Berücksichtigt langfristige und kurzfristige Ziele
Beachtet die Eigenheiten verschiedener Algorithmen
Funktioniert sowohl für bezahlte als auch organische Inhalte
Bildet eine kreative Einheit unter einem gemeinsamen Konzeptdach
Ein gelungenes Beispiel liefern Tinder und die Agentur Mischief mit ihrer Plattform „It Always Starts With A Swipe".
Abbildung 2: It Starts With A Swipe, Mischief, Feb 2023
Die Kernidee: Unabhängig davon, wie man Beziehungen definiert – alles beginnt mit einem Swipe.
Diese Idee spricht verschiedene Zielgruppen an, lässt sich über alle Kanäle von Außenwerbung bis Social Media umsetzen und bietet Potenzial für zukünftige Weiterentwicklungen.
Die Kampagne umfasst 15-Sekunden-Spots für On-Demand-TV, Außenwerbung und Social-Media-Inhalte – alles unter einer konsistenten Idee vereint. Beispiele finden Sie hier:
https://mischiefusa.com/work/it-starts-with-a-swipe
Wie geht's weiter?
In den kommenden zwei bis drei Jahren werden wir eine Flut von KI-generierten Inhalten auf Social-Media-Plattformen erleben. Die sinkenden Produktionskosten werden die ohnehin geringe Qualitätskontrolle weiter aushöhlen, zugunsten von reiner Quantität.
Social Media wird sich noch stärker zu einem Ort für passiven Content-Konsum entwickeln, während der echte Austausch mit Freunden und Communities sich weiter in geschlossene, private Räume verlagern wird.
Erfolg werden jene Unternehmen haben, die:
Eine klare Social-Media-Strategie entwickeln
Konsistente Umsetzung über alle Kanäle hinweg sicherstellen
Angemessene Ressourcen bereitstellen
Marken hingegen, die blind Trends kopieren, am 21. Juni ein Posting zum Welt-T-Shirt-Tag veröffentlichen und sich auf die schiere Menge an KI-generierten Inhalten verlassen, werden lediglich zur allgemeinen Content-Noise beitragen - ohne echten Wert für die eigene Marke zu schaffen.
Herzlichen Dank für’s Lesen! Ich würde mich sehr auf Eure Sichtweise und Diskussion auf LinkedIn freuen.
Quellen & Leseempfehlungen:
The Guardian Artikel zur Studie der British Standard Institution
https://www.theguardian.com/technology/2025/may/20/almost-half-of-young-people-would-prefer-a-world-without-internet-uk-study-finds)Zoe Scamans ‘Solitude Generation’
https://zoescaman.substack.com/p/the-solitude-generationKaren Nelson-Fields Arbeit zur Wahrnehmungsschwelle
https://www.amplified.co/insight/why-does-the-attention-memory-threshold-matterMagicNumbers, The Little Things That Count
https://magicnumbers.co.uk/articles/in-brand-building-now-its-the-little-things-that-count/Lumen Research zu ‚Aggregated Attention’
Frankly Speaking Gespräch von Michael Corcoran & Eugene Healey
https://substack.com/home/post/p-163646112Tinder Case ‘It Starts With A Swipe’, Mischief
https://mischiefusa.com/work/it-starts-with-a-swipeTinder Case ‘It Starts With A Swipe’, Tinder
https://www.tinderpressroom.com/2023-02-27-TINDER-REDEFINES-EXPECTATIONS-WITH-NEW-BRAND-CAMPAIGN-THAT-CELEBRATES-GEN-ZS-AUTHENTIC,-FLUID-AND-BEAUTIFUL-CONNECTIONS